In der Kirche

Am 6. Oktober 1989 kam Michael Gorbatschow in Ostberlin an und seine Rede über Glasnost und Perestroika ließen mich an dem Abend entschlossen erstmals in die Gethsemanekirche gehen. Ich wohnte damals nur ein Stück entfernt in der Wisbyer Str. Mich beeindruckte, wie Menschen in den Hungerstreik treten, weil sie wichtige politische Forderungen hatten. Ich habe zu dieser Zeit schon einiges bei der NVA im Wehrdienst erlebt, aber das war mir als 21jährigen neu. In der Kirche herrschte eine große Solidarität. Menschen kamen und gaben Essen und Trinken als Spenden an die, die dort ausharrten, weil sie gegen das SED-Regime protestierten. Abends gab es eine Mahnwache für die Politischen Häftlinge in der DDR vor der Tür auf dem Kirchengelände. Hunderte Kerzen brannten. Die Polizei wagte es nicht, das Kirchengelände anzugreifen. In der Kirche wurde eine enge Kommunikation mit oppositionellen Gruppen in Leipzig, Dresden und anderen Städten gehalten. Alles lief über das Telefon des Gemeindepfarrers. 

 

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Im "Stargarder Kessel"

Ich habe erst Jahre später angefangen, die Erlebnisse für mich aufzuschreiben. Deshalb habe ich manchmal Mühe, den 7. und den 8. Oktober nicht zu verwechseln. Meiner Erinnerung nach war ich am war ich am Abend des 7. OIktober nicht in der Kirche, sondern kurvte zuerst durch Berlin-Mitte und schloss mich dann einer bereits blockierten Demonstration am Palast der Republik an, in dem die SED-Bonzen und ihre Gäste auf die DDR anstießen. Am 8. Oktober war eine Fürbittandacht in der Kirche mit Landesbischof Gottfried Forck angesagt. Ich war ab Nachmittags in der Kirche, diese war rappelvoll. Viele Männer, auch mit SED-Parteiabzeichen sah ich im Gestühl. Als die Andacht zu Ende ging, sah ich durch die hohen Kirchenfenster immer etwas Blaues zucken. Ich hatte keine Ahnung, es waren die Blaulichter der Polizeiautos und Mannschaftswagen, die bereits die Straßen um die Kirche abriegelten. Stargarder Str. / Buchholzer Straße / Greifenhagener Str. - alles war durch Polizeiketten gesperrt, als wir die Kirche verließen. Bischof Forck mahnte uns zur Besonnenheit. Die Bereitschaftspolizei hatte Stifel an, Reiterhosen, Helme und Schilder und die langen Schlagstöcke. Die Polizeioffiziere trugen Schirmmütze mit unter das Kinn gezogenem Sturmriemen. Hunde kläfften gefährlich. Es war eine gespenstische und bedrohliche Situation.

 

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Der alte Gerhard Back

Am 9. Oktober kam ich nach der Arbeit wieder in die Kirche. Ich habe damals im "Bako" (Backwarenkombinat) in der Saarbrücker Str. gearbeitet. Gerhard Back war ein damals 60jähriger herzenguter Mann, der der Abteilungsleiter war und somit auch mein Chef. Der hatte im September jeden Tag Gewissenbisse. Er sollte anlässlich des 40. Jahrestages einen sehr hohen Orden bekommen, an dem eine Geldprämie von - ich glaube 2.000 Mark - hing. Es war der "Vaterländische Verdienstorden" in Bronze. Der alte Back wollte das nicht, er jammerte immer: "ick hab doch ja nüscht jemacht. Ich bin doch bloß imma zur Arbeit jekommen. War in keene Partei nüscht drin..." Er überlegte, den Orden abzulehnen. In den Tagen des Oktober verabschiedeten wir uns im Büro immer sehr intensiv. Er drückte er mir in diesen Tagen fest die Hand , sah mich an und sagte: "Mach jut, mein Junge, bis Morgen früh". Mir saß der Schalk im Nacken und so antwortete ich "so Gott will". Der alte Mann hatte dann Tränen in den Augen, er hatte Angst um mich und Angst vor der großen Eskalation. Er hatte 1953 den 17. Juni im Betrieb erlebt. Die Arbeiter wollten den verhassten FDJ-Sekretär, der alle schikanierte, massakrieren. Der entkam mit vor Angst vollgepissten Hosen. Ein paar Stunden später bog ein sowjetischer Panzer von der Prenzlauer Allee in die Saarbrücker Straße ein und fuhr an die Toreinfahrt, senkte die Kanone und zielte in den Hof. Auf dem Panzer saßen sowjetische Infanteristen und der FDJ-Sekretär. Der zeigte mit dem Finger auf die Arbeiter, die ihm ans Leder wollten und die Soldaten verhafteten sie. Einige sah man im Betrieb nie wieder. Noch nach der Maueröffnung war der alte Back misstrauisch auf die SED-Bonzen.

ZDF an der Kirche, Staatssicherheit und Glockengeläut

Am 9. Oktober war ich also nach der Arbeit wieder in der Kirche.